Fränkische Landeszeitung vom 29.06.2023

Literarische Prozesse
Die Reihe "Blickwinkel 360°": Franz Kafka trifft auf Richard von Weizsäcker

ANSBACH - Es gibt Fragen zu Franz Kafka, die kann Reiner Stach eigentlich nicht mehr hören. Der viel gerühmte Kafka-Biograf beantwortet sie trotzdem. Zum Beispiel die, ob eine zu große Dosis Kafka depressiv mache. Tut sie das?

Wer den dritten Abend der Reihe Blickwinkel 360° im Ansbacher Feuerbachhaus erlebt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen, Reiner Stach, der über Kafka, dessen Leben, Zeit und Texte erzählen kann wie kein zweiter, gibt sie, zusammen mit dem Schriftsteller Fridolin Schley.
Ausgangspunkt sind zwei Romane, die beide mit einem Prozess zu tun haben: Kafkas unvollendete Roman "Der Process" und Schleys Doku-Fiktion "Die Verteidigung". Bei Kafka sieht sich ein Bankangestellter verhaftet und angeklagt, ohne dass er wüsste warum. Bei Schley verteidigt Richard von Weizsäcker während der Nürnberger Prozesse seinen Vater, der im Dritten Reich als Diplomat und Staatssekretär zum Schreibtischtäter wurde.

 

Nebeneinander gelegt müssten diese beiden Bücher sofort miteinander ins Gespräch kommen, könnten sie denn reden. Sie hätten sich viel zu sagen. Sie würden sich über schwierige Vater-Sohn-Beziehungen austauschen, über Schuld und Verdrängung nachdenken. Sie würden auf die deutsche Geschichte und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts kommen, sich mit dem Antisemitismus und seinen mörderischen Folgen auseinandersetzen und nebenbei die Literaturtheorie streifen.

An diesem Abend hörte man die zwei Romane reden. Die beiden Autoren liehen ihnen ihre Stimme, angeregt von Tom Greve, der als Kafka-Fan und Deutschlehrer umsichtig durch das Büchergespräch führte. Der Abend war daher keine konventionelle Autorenlesung, sondern eine Art literarischer Salon, eine Verführung zum mitdenkenden Lesen. Weitere sollen in dieser neuen Reihe des Vereins „Wortkunst" folgen. Ein Vorspiel zum Kafka-Jahr 2024, dem 100. Todesjahr, war er außerdem. Ein paar Klischees räumte er schon einmal ab. Das mit der depressiven Wirkung etwa. Denn bei aller Albtraumhaftigkeit und Tragik: „Die Kafka-Texte sind durchtränkt mit Komik", sagt Reiner Stach. Slapstick wie im Stummfilm gebe es da-rin. Fridolin Schley sieht das genauso. Er findet Kafkas Texte immer lustiger, je öfter er sie liest. Und er weist noch auf ein anderes Komik-Prinzip hin: Ein Übermaß an Ordnungssinn erreicht das Gegenteil und produziert Chaos. Für beide Münchner Schriftsteller ist da Loriot gar nicht so weit entfernt.

THONAS WIRTH