Fränkische Landeszeitung, 25. April 2015

Die unbekannte Welt der Scharia. Professor Dr. Mathias Rohe warnt vor übertriebenen Ängsten – „Ganz normal unser geltendes Recht anwenden"

ANSBACH (an) - Nicht einmal die Veranstalter gingen von einem vergnüglichen Abend aus. Dr. Malte Schwertmann für die Feuerbach Akademie und Norbert Boehnki von der Katholischen Erwachsenenbildung tischten schwere Kost auf. „Wir verbinden mit dem Begriff Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Unterdrückung", sagte Boehnki. Professor Dr. Mathias Rohe weiß mehr über die Scharia.

Der Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg könnte über gefälligere Themen referieren. Doch die arabische Welt hat den Stuttgarter schon früh fasziniert, so dass er Jura und Islamwissenschaft in Tübingen und Damaskus studierte. Er kennt die wachsenden Bedenken. „Die Scharia ist ein Begriff, der Angst auslöst." Erst recht, wenn der Professor laut darüber nachdenkt, welche Elemente fremd erscheinen. Deshalb spendierte er am Mittwochabend den rund 80 Zuhörern eine Beruhigungspille vorneweg. „Es ist keineswegs so, dass eine Islamisierung des deutschen Rechtssystems drohen würde. In Deutschland entscheidet allein das deutsche Recht."

Alles eine Frage der Auslegung

Schwer zu fassen, die Scharia. Das glatte Gegenteil eines ordentlichen Gesetzbuchs. „Sie ist ein geistiges Werk, das sich über mehr als 1 300 Jahre in den unterschiedlichsten Ausprägungen entwickelt hat", so Rohe. Also der Traum eines jeden Juristen. Das Handabhacken, blätterte der 55-Jährige kurz das Geschichtskapitel auf, gab es einst auch in Europa: für Diebe, Meineidige und Geldfälscher. Bis aufklärerische Gelehrte die dunkelsten Kapitel der christlich beeinflussten Jurisprudenz auf eine neue Ebene hoben, verbeugte er sich vor dem Namensgeber der Akademie. „Gerade Anselm von Feuerbach ist ja einer der großen Reformer."

Und wie ist das mit den vier Frauen? „Vierte Sure, Vers drei, vier", verwies Rohe auf die Quelle, entstanden in einem Krieg, der vielen Männer das Leben kostete, und keiner wusste, wer sich um Witwen und Waisen kümmern soll. „In einer Gesellschaft ohne soziale Sicherungssysteme", öffnete der weltläufige Jurist den Blick in Länder ohne Sozialamt, „sollte vermieden werden, dass Witwen und Waisen sterben". Was aus dem Johannes-Evangelium wohlbekannt sei. „Johannes nimmt Maria zu sich." Hinterbliebenenversorgung.

Oder doch Ausdruck archaischer Männerphantasien? „Die Scharia lässt eine Fülle von Interpretationen zu. Sie ist hochflexibel." Wenn ihn jemand frage, wie das denn so sei, mit der Scharia, frage er deshalb erst einmal: „Scharia? Was meinst du denn damit?"

Womit der Gelehrte aus Erlangen in einem Supermarkt in Erfurt landete. Ein muslimischer Mitarbeiter sollte ausgerechnet das Schnapsregal betreuen. Er verwies auf das Alkoholverbot, weigerte sich und wurde entlassen. Das Arbeitsgericht gab ihm recht, weil es für ihn genügend andere Aufgaben gegeben hätte und der Arbeitgeber deshalb ohne Probleme auf die religiösen Gefühle Rücksicht nehmen kann. In Köln wurde einer Muslimin der Urlaub zu dem einzigen Zeitpunkt verweigert, zu dem sie die Wallfahrt nach Mekka antreten konnte. Auch hier half das Arbeitsgericht.

Mehr Gerechtigkeit für Zweitfrauen

Ehepaare aus fremden Ländern können sich in Deutschland nach den Bestimmungen ihrer Heimat trauen lassen. Egal, ob das Brautpaar aus Frankreich kommt, Kanada, Ägypten oder dem Iran. Umgekehrt ist das deutlich schwieriger. Wird die Zweit-Dritt-Viert-Ehe im Ausland geschlossen und dann geht es nach Germanien, gelten diese Frauen nicht als verheiratet. Was sie beim Tod des gemeinsamen Gatten in die Armut stürzt. Hartz IV statt Erbe oder Unterhalt, die Nummer 1 nimmt alles. „Das geht zu Lasten der betroffenen Zweitfrau", mahnte Rohe, gefragter Ratgeber im Bundestag.

 

Deshalb werde in den politischen Kulissen der Einstieg in eine Änderung vorbereitet, mit Unterstützung islamischer Frauenrechtlerinnen. Ziel sei, das Vermögen des Mannes zwischen all seinen Angetrauten aufzuteilen. Ein Element der Scharia auf dem Weg ins deutsche Recht? „Ja", sagt Rohe. Weil es ein Stück mehr Gerechtigkeit für Frauen sei. „Man muss es erklären."

Religion von Kriminellen missbraucht

Was beim Brautgeld gar nicht nötig sei, da universaler Brauch. „Man darf der Ehefrau etwas schenken." Ebenso selbstverständlich die Klärung, auf welcher Ebene man sich bewegt. „Wenn ein deutscher Maschinenbauer etwas nach Frankreich verkauft, müssen sich die beiden Seiten auch entscheiden, nach welchem Recht." Außergerichtliche Streitschlichtung? „Das ist sogar erwünscht nach deutschem Recht, vorausgesetzt, es ist freiwillig, professionell und es gibt die Chance, wieder rauszukommen."

Missbraucht werde die Religion dagegen von Banden muslimischer Männer, die man nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als organisiertes Verbrechen einstufen müsse. Radikale seien häufig „junge Männer in einer Sinnkrise mit kriminellen Potenzial". Diese stünden auch bei Muslimen ganz am Rand. „Wir müssen versuchen, diejenigen zu unterstützen, die gegen solche Radikalisierungen arbeiten wollen. Das sind vor allem die Familien der Betroffenen."

Aufschreie im Zorn geschähen meist aufgrund persönlicher Erlebnisse, warnte Rohe vor Verallgemeinerungen. Im Alltag seien vor allem junge Leute nicht von religiösen Schriften geleitet. „Scheich Google ist mittlerweile die Hauptreferenz für junge Leute." Was viele sehr pragmatisch mache, aber auch Gefahr bedeute. „Im Internet gibt es alle Arten von Radikalismen. Das kann ganz schnell gehen." Umso wichtiger sei es, andere Plattformen zu schaffen. „Damit die Mehrheitsmeinung, die Frieden will, sich artikulieren kann."

Muslime als Verbündete

Dr. Mathias Rohe, preisgekrönter Autor von Büchern über den Islam und Mitglied im Kuratorium der Christlich-Islamischen Gesellschaft, schätzt viele Muslime als verlässliche Verbündete. „Muslime, die sagen, wir sind vor allem mal Deutsche, Menschen, die in Deutschland leben und die etwas beitragen wollen zu dieser Gesellschaft – und die offen für Gewaltprävention eintreten."

Diese müsse früh beginnen. „Wir bringen den Islam in die Klassenzimmer und sagen den jungen Leuten, ihr könnt gleichzeitig gute Muslime und gute deutsche, europäische Staatsbürger sein." Für lähmende Ängste vor radikalen Islamisten gebe es keinen Grund, so Mathias Rohe, auch wenn Terroranschläge vielleicht nicht völlig zu verhindern seien. „Die höchste Wahrscheinlichkeit, in unnatürlicher Weise zu Tode zu kommen, ist, dass uns nachts ein Besoffener über den Haufen fährt, wenn wir über die Straße wollen."

Mehr Gelassenheit und ein offener Dialog, so Rohes Vorschlag, seien die wichtigsten Faktoren. „Wir brauchen gemeinsame Regeln. Diejenigen, die das nicht möchten, die fordern uns heraus und die müssen wir in ihre Schranken weisen." Doch es dürfe keinen „Generalverdacht aufgrund unserer eigenen Ängste" geben. „Wir sollten ganz normal unser geltendes Recht anwenden."

 




 


Wochenzeitung, 02. Mai 2015

„Ein hochflexibles Normengefügte, das viele Interpretationen offen lässt" „Das Rechtssystem der Scharia und seine Anwendung in Deutschland" im Feuerbachhaus

ANSBACH (dk) – Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Scharia"? Welche rechtlichen Fragen und Regelungen sind von der Scharia betroffen? Diese und weitere Fragen ergründete Prof. Dr. Mathias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Isam und Recht in Europa, der den Lehrstuhl für bürgerliches Recht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen-Nürnberg inne hat, in seinem Referat zum Thema „Das Rechtssystem der Scharia und seine Anwendung in Deutschland". Organisiert wurde der Vortrag von der Feuerbachakademie in Kooperation mit der katholischen Erwachsenenbildung der Stadt Ansbach.

Die Scharia ist zu einem Schreckensbegriff geworden. Terroristen und Extremisten begehen ihre Schandtaten unter Berufung auf die Scharia. Die alles entscheidende Frage hierbei ist: Ist dies eine Charaktereigenschaft der Scharia oder stellt dies lediglich einen Missbrauch dar? „Die Scharia ist das Gegenteil eines Gesetzbuches", so die einleitenden Worte des Referenten, Prof. Dr. Mathias Rohe.

Als ein geistiges Werk, das sich mit der Zeit entwickelt hat, betrifft die Scharia auch rechtliche Fragen. Das islamische Recht besitzt zwar einige Gemeinsamkeiten mit den deutschen Rechtslagen, allerdings gibt es auch mehrere Unterschiede. Entscheidend sei, ob diese unterschiedlichen Herangehensweisen in den verschiedensten Bereichen zu Problemen führen oder nicht. Vereinfacht ausgedrückt, käme es auf das situationsbedingte Verständnis des jeweiligen Interpreten an. Vergleicht man rechtliche Rahmenbedingungen, so muss man einen differenzierten Blick auf die Scharia richten. Was das Arbeitsrecht angehe, müsse man das ganz normal geltende Recht anwenden und die Fahne der Rechtsstaatlichkeit hochhalten. Bei Unstimmigkeiten zwischen dem Bestimmungsrecht des Arbeitgebers und der Religionsfreiheit des Arbeitnehmers setze sich derjenige durch, dessen Anliegen einen höheren Stellenwert besitze.

 

Um Rechtsfälle mit Grenzüberschreitungen zu klären, müsse man im internationalen Privatrecht die Rechtsvorschrift, die sachlich am nächsten liege, anwende, so Rohe. Auch für fremde Rechtsvorstellungen seien die Türen geöffnet, allerdings behalte man die „Klinke", die Schaffung und Wahrung des Friedens und die damit einhergehende Beibehaltung der öffentlichen Ordnung, in der Hand. Das Recht muss immer versuchen, den Individuen zu helfen. Unter den rund vier Millionen Islamisten in Deutschland akzeptiert laut Rohe der allergrößte Anteil breitflächig die deutschen Rechtsvorgaben. Aber es gibt auch kleine Gruppierungen, welche kriminelle Strukturen aufweisen, die überraschenderweise bisher ohne großen Widerstand zugelassen werden. Diese Terrorgruppen, darunter viele Saudi-Araber, bergen eine große Gefahr. Alle möglichen Arten von Radikalismus würden sich im Internet versammeln. Es sei daher von hoher Bedeutung, Plattformen zu schaffen, um auf diese Art des Terrors vorbereitet zu sein. Religion sei zwar ein Faktor, aber auch nur einer unter vielen. Man dürfe sich nicht von einzelnen Anschlägen verängstigen lassen, betonte Rohe.

Um es mit den Worten von Bundespräsident Joachim Gauck aufzufassen: „Wir schenken euch nicht unsere Angst. Euer Hass ist unser Ansporn. Wir bewahren Ruhe und bleiben bei unseren Prinzipien."