Fränkische Landeszeitung vom 18.10.2025

Die Faszination für reale Verbrechen. Wie Anselm von Feuerbach, Egon Erwin Kisch und Truman Capote das "True-Crime"-Genre prägten - Richter Andreas Grube im FLZ-Interview

Interview von Andrea Walke

ANSBACH - „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett." Ob dieser Schlager auch für die Brüder Andreas und Christoph Grube gilt? Nicht ausgedachten Krimis, sondern True Crime widmen sich der Strafrichter und der Literaturwissenschaftler am 23. Oktober in der Feuerbach Akademie. Über die „Faszination Verbrechen" spricht Andreas Gruber auch im Interview.

Im „True Crime"-Genre werden reale Kriminalfälle nacherzählt. Woher kommt unsere Faszination für Verbrechen?

Die Suche nach den dunklen Seiten des Menschen gab es schon in der literarischen Romantik. Wie ist ein Verbrechen erklärbar? Welche Emotionen, welche charakterlichen Anlagen, welche äußeren Umstände müssen zusammenkommen, damit ein Verbrechen geschieht? Was macht jemanden zum Täter?

Reale Verbrechen und deren Hintergründe werden in der Literatur, im Film oder auch im Podcast aufgearbeitet. Wie hat sich dieses Genre entwickelt?

Der Begriff „True Crime" ist in den 1920er Jahren in Amerika entstanden. Aber der Ursprung der Gattung liegt eigentlich im 18. Jahrhundert in Frankreich, wo der Anwalt François Gayot de Pitaval interessante Rechtsfälle publiziert hat. Der Begriff des Pitaval wurde zum Namen der Gattung. Später hat auch Friedrich Schiller viele seiner Stoffe dem Pitaval entnommen.

Tatsächlich hat sich auch ein berühmter Ansbacher sehr für außergewöhnliche Verbrechen interessiert ...

Paul Johann Anselm von Feuerbach hat ab 1808 seine Sammlung „Merkwürdige Kriminalrechtsfälle" publiziert. Die Fälle stammen aus seiner praktischen Tätigkeit, als er in München am Justizministerium Gnadengesuche für den König bearbeiten musste. Die Akten all derer, die Gnadengesuche gestellt hatten, landeten auf seinem Schreibtisch. Er hat diese Fälle aufgearbeitet und Entscheidungsvorschläge gemacht. Die interessantesten hat er zusammengetragen und 20 Jahre später um weitere Fälle erweitert, als er in Ansbach am Gericht war.

Was fasziniert Sie an der Person Feuerbachs?

Persönlichkeit ist einfach interessant. Feuerbach war Wissenschaftler, Praktiker und Schriftsteller - er verbindet auf einzigartige Weise Wissenschaft und Praxis. Er hat auch das Bayerische Strafgesetzbuch, das 1813 in Kraft trat, wesentlich beeinflusst. Nicht alles, was er wollte, ist dann Gesetz geworden. Feuerbach war eine schwierige Persönlichkeit, die sehr von sich eingenommen war. Überall, wo er hin kam, gab es ein bisschen Ärger. Ansbach war seine letzte berufliche Station.

Als er dahin kam, hat er auch dort erst mal für Probleme gesorgt. Er ist gegenüber dem Gerichtskollegium herrisch aufgetreten. Deshalb hat ihn der König erst mal auf eine Studienreise nach Frankreich geschickt, um die Luft herauszulassen.

Er sollte das französische System studieren und überlegen, ob man positive Aspekte nach Bayern herübertragen kann. Feuerbach ist seiner Zeit in vielem voraus - auch wenn man sich sein Lehrbuch des Strafrechts anguckt, das Standardwerk im 19. Jahrhundert. Darin sind ganz viele Aspekte enthalten, die heute noch von Bedeutung sind. Er übt auch Kritik an bestimmten Regelungen, versucht Verbesserungsvorschläge zu machen oder Probleme aufzuzeigen, die das Strafverfahren mit sich bringt.

Auf welche Schwierigkeiten hat er hingewiesen?

Es geht beispielsweise um die Frage, inwieweit man einem Zeugen glauben kann oder wie viel ein Geständnis wert ist. Das ist bis heute eine interessante Frage. Egal, wie die Beweislage ist: Das Geständnis hat immer eine mildernde Wirkung. Das kommt aus ganz uralten Zeiten vom Inquisitionsprozess, wo man überhaupt nur verurteilt werden konnte, wenn man ein Geständnis abgelegt hat. 

Feuerbach sind wir in einer Zeit des Umbruchs: Das Geständnis hat man letztendlich durch Folter erzwungen, das gibt es in der Form heute nicht mehr. Aber die Frage, ob es falsche Geständnisse gibt, durchaus.

Welche bekannten Vertreter des frühen „True Crime" haben Sie sonst noch aufgestöbert?

Erwin Kisch hatte als Journalist noch eine ganz andere Herangehensweise an das Thema. Er hat in den 1930er Jahren einen Pitaval, also eine Sammlung von Fällen, aus seiner Zeit als Gerichtsreporter in Prag geschrieben. Vom Juristen Feuerbach über den Journalisten Kisch kommen wir bei der Veranstaltung dann als letztes zum Schriftsteller Truman Capote.

 

 

Dieser hat einen realen Fall, der in den USA für großes Aufsehen gesorgt hat - die Ermordung der Familie Clutter 1959 - zum Anlass genommen, einen Tatsachenroman zu schreiben. Nachdem Capote darüber in der Zeitung gelesen hat, ist der in diesen kleinen Ort in Kansas gefahren, hat dort selbst ermittelt, sich mit Bekannten der getöteten Familie und dem Polizeiermittler ausgetauscht. Als die Täter gefasst worden sind, hat er Interviews mit ihnen geführt und war dann letztendlich sogar bei ihrer Hinrichtung dabei.

Wie hat sich die Betrachtung von Verbrechen über die Zeit entwickelt?

Die Vorstellung, was in der Psyche des Menschen passiert, hat sich verändert. Feuerbach gilt auch als Begründer der Kriminalpsychologie. Seine Vorstellung, was das Verbrecherische im Menschen ausmacht, würde man heute so sicher nicht mehr vertreten.

Moderne Gutachter würden vielleicht zu anderen Ergebnissen kommen als Feuerbach damals. In dem Fall von Capote geht es um zwei Täter, und ihm ist wichtig, zu zeigen, wie sich schon biografisch vieles falsch entwickelt hat. Im Gerichtsverfahren bemüht man sich heute, der Biografie durch ein psychiatrisches Gutachten gerecht zu werden, was damals in den 1960er Jahren noch nicht selbstverständlich war. Heutzutage ist das bei Schwurgerichtssachen Standard.

Ist es eigentlich realistisch, was bei Krimis im Buch oder Film so alles passiert?

Wenn ich fiktionale Geschichten angucke, achte ich darauf, ob das aus meiner professionellen Sicht wahrscheinlich ist. Tatsächlich finde ich bei Fällen, mit denen ich beruflich zu tun habe, oft faszinierend, was alles passieren kann. Das Geschehen ist häufig von so vielen Wendungen, Überraschungen und Zufällen geprägt, die man sich gar nicht ausdenken kann. Das übertrifft die Fantasie jedes Literaten.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich denke an den lange ungeklärten Mord an der 15-jährigen Jutta Hoffmann. Das Mädchen wurde 1986 vergewaltigt und ermordet und mithilfe eines Spatens im Wald verscharrt. Die Leiche wurde erst eineinhalb Jahre später entdeckt. Am Spaten fand man noch einmal 35 Jahre später DNA eines verurteilten Sexualstraftäters. Man nahm ihn ins Visier und setzte einen verdeckten Ermittler auf ihn an, mit dem sich der Verdächtige - ohne Kenntnis von dessen wahrer Identität und Funktion zu haben - anfreundete.

Gezielt wurde der Fall in der Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst" noch einmal präsentiert. Der verdeckte Ermittler sorgte dafür, dass der Verdächtige die Sendung mit ihm gemeinsam ansah.

Wie ging es weiter?

Bei der Vorstellung des Falls zeigte sich der Verdächtige nervös und plapperte Details aus, die nur der Täter wissen konnte. So lieferte er die entscheidenden Beweise für seine Täterschaft und wurde schließlich vor ca. zwei Jahren vom Landgericht Darmstadt wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten, über die mein Senat zu entscheiden hatte, war erfolglos. Die Aufdeckung dieses Mordes bietet Stoff für einen großartigen Kriminalfilm, finde ich.

Schauen Sie gern Krimis im Fernsehen?

Nein, eigentlich nicht. Das liegt vielleicht daran, dass mir das häufig zu durchschaubar ist. Es gibt aber auch gute Krimis mit Wendungen, die man nicht erwartet oder faszinierende Thriller. Ganz hervorragend finde ich den letzten Clint Eastwood Film „Juror #2", wo es um einen jungen Mann geht, der Jurymitglied in einem amerikanischen Gerichtsprozess ist. Es stellt sich heraus, dass eigentlich er Schuld hat an dem, was passiert ist, aber ein anderer sitzt auf der Anklagebank.

Können Sie sich vorstellen, irgendwann selbst einmal ein Buch mit Fällen aus Ihrer Berufspraxis herauszugeben?

Ehrlich gesagt habe ich schon vor vielen Jahren angefangen, die schönsten Fälle, die mir in meiner beruflichen Karriere begegnet sind, zu sammeln. Und neulich hat sich ein Fall ergeben, der großartigen Stoff für einen Film böte. Mehr wird noch nicht verraten. Wenn ich mal ganz viel Zeit habe, dann werde ich das angehen - vielleicht mit meinem Bruder zusammen.

Zur Person: Prof. Dr. Andreas Gruber (55) wurde 1970 in Erlangen geboren. Nach dem Studium und Referendariat in Bayern war er zunächst als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Erlangen tätig. Später arbeitete er als Staatsanwalt und Richter bei verschiedenen Behörden und Gerichten sowie im Justizministerium Baden-Württemberg. Im November 2016 ernannte man ihn zum Richter am Bundesgerichtshof, dort ist er Mitglied des zweiten Strafsenats. In dieser Revisionsinstanz werden Urteil auf Rechtsfehler überprüft. Seit 2025 ist Grube außerdem Honorarprofessor an der Universität Heidelberg. Er hält dort Veranstaltung zu Medizinstrafrecht.