Fränkische Landeszeitung, 29. Juli 2010
Eröffnung der Kaspar-Hauser-Festspiele im Feuerbachhaus: Die große Projektionsfläche. Der Findling: zwischen Menschheitsrätsel und Impulsgeber
ANSBACH – Kunst und Wissenschaft in Sachen Kaspar Hauser zusammenführen, das ist seit Beginn der Kaspar-Hauser-Festspiel, seit 1998, die Absicht von Eckart Böhmer, dem Festspiel-Intendanten. Was das heißt, demonstrierten er und Dr. Alfred Meyerhuber bei der Eröffnung der Festspiele 2010 im Feuerbach-Haus. Böhmer sprach über den Findling als Projektionsfläche, Dr. Meyerhuber über den epochemachenden Rechtsgelehrten Anselm Ritter von Feuerbach und über Guantánamo. Eine kleine Sensation danach war, dass Böhmer zwei Gemälde von Vater und Sohn Kreul präsentieren konnte, die bislang nie öffentlich gezeigt wurden: Portraits von Hauser und Feuerbach aus dem Privatbesitz der Nachfahren Feuerbachs.
Symbol, Mythos, Rätsel, Archetyp, Parabel und Gleichnis – alles Begriffe, wie Böhmer darlegte, um das Phänomen Kaspar Hauser zu beschreiben. Böhmer führte nun einen anderen, technischer anmutenden Begriff ein, den der Projektionsfläche. Das war, was Böhmer nicht anspricht, im Feuerbachhaus eine sinnige Wendung. „Projektion" ist ein Begriff, der vereinfachend oft mit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, einem Sohn des Juristen, in Verbindung gebracht wird. Auf Kaspar Hauser bezogen, formuliert es Böhmer so: „Er ist wie eine Projektionsfläche oder ein Spiegel. Er gibt nur zurück, was hineingegeben wird."
Der Findling ist zudem eine Art Verknüpfungspunkt, ein Knoten, der scheinbar Unverbundenes zusammenbindet. Böhmer führte es an René Magrittes Gemälde „Die Hellsichtigkeit" vor. Ein Maler malt eine fliegende Taube und blickt dabei zum Modell: einem Ei. Böhmer sieht Hausers Schicksal darin. Das Ei als Symbol von Werdendem, von Gefangenschaft und Geborgenheit. Die Taube als Symbol der Freiheit und des Friedens. Aber: „In Kaspar Hauser schauen wir auf das Nichtgewordene." Hauser als „Symbol des Leids, der Seelenamputation", das ist für Böhmer ein Thema, das in Zukunft leider noch mehr an Bedeutung gewinnen werde. Er stützt sich dabei auf den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der vom Kaspar-Hauser-Komplex sprach, um die „absolute Vereinsamung" des Menschen in der heutigen Gesellschaft zu charakterisieren. Wie Kaspar Hauser als Symbolfigur eines jahrelang Eingekerkerten der Anstoß sein kann, sich mit juristischen Problemen der Gegenwart auseinanderzusetzen, das zeigte Dr. Alfred Meyerhuber, der Hausherr im Feuerbachhaus, bei seinem Vortrag. Der Jurist ging von dem Rechtsgrundsatz aus, den Feuerbach, Kaspars Mentor, formuliert, verfochten und kodifiziert hat: „Nulla poena sine lege". Keine Strafe ohne Gesetz. „Glanzvoll" sei das, so Dr. Meyerhuber: „Aber ist das heutzutage durchzuhalten?"
Als Beispiel führte er ein Thema der aktuellen Rechtsdiskussion an. Was tun, wenn ein Gewaltverbrecher noch gefährlich ist, aber bei seiner Verurteilung eine lebenslange Sicherheitsverwahrung nicht legitim war, diese nun aber rückwirkend angeordnet werden soll? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält dies, eben wegen „nulla poena sine lege", nicht für rechtens. Gegen das Freiheitsbedürfnis des Täters stehe aber das Sicherheitsrecht der Allgemeinheit.
Im Fall des Gefangenenlagers Guantánamo, wo Häftlinge ohne rechtliche Grundlage interniert sind, ließ Dr. Alfred Meyerhuber die Fakten sprechen, auch mit Blick auf Feuerbach, der seit 1806 ein Vorkämpfer für die Abschaffung der Folter war. Dr. Meyerhuber nannte Beispiele aus Rechtsgutachten des US- Justizministeriums, die Verhörmethoden erlaubten, die im Sinne der Gutachten keine Folter seien: Ohrfeigen, Schlagen in den Magen, das Werfen von Gefangenen an die Wand, das Sperren in eine Kiste mit Kriechtieren, simuliertes Ertränken. Kopfschütteln und bitteres Lachen im Saal waren Kommentar genug zu diesen Gutachten, das 200 Jahre nach Feuerbachs „Entwurf zur Abschaffung der Folter" entstand. Dr. Meyerhuber wies zudem darauf hin, dass die Schließung des Gefangenenlagers für „Obama, den Friedensnobelpreisträger", offenbar keine Priorität mehr besitze.
Zum Ende der Eröffnungsveranstaltung hielt Eckart Böhmer ein leidenschaftliches Plädoyer für zwei fast vergessene, aber hoch begabte Portraitmaler, für Johann Lorenz Kreul und seinen Sohn Johann Friedrich Carl Kreul, der Hauser zweimal portraitierte. Das ausgestellte Gemälde, das vermutliche spätere und von Lord Stanhope in Auftrag gegebene, zeigt einen schon merklich gealterten, strengeren Hauser – jedenfalls im Vergleich zum jünglingshafteren, helleren Bildnis, das Hausers Lehrer Daumer besaß. Böhmers Arbeitshypothese: Hauser schaue aus den Bildern heraus, wie Daumer oder Stanhope und Feuerbach ihn angeschaut hätten – Projektionsfläche Kaspar Hauser.
Thomas Wirth